STADTRUNDGANG DER ETWAS ANDEREN ART DIE CITY AUS DEM BLICKWINKEL DER WOHNUNGSLOSEN
Bensheim am Samstagmittag. Trubel in der Innenstadt. Volle Einkaufstüten, volle Cafés und satte Passanten. Nur in den Mülleimern findet sich wenig, was sich zu Geld machen lässt. Wenigstens ein paar ausgedrückte Kippen lassen sich noch verwerten.
Aus dem Blickwinkel eines Wohnungslosen oder Bedürftigen sieht die Stadt etwas anders aus. Ein Rundgang mit dem Leiter des Zentrums der Wohnungslosenhilfe öffnet die Augen.
Björn Metzgen-Meuer war lange Streetworker in der Stadt. Er kennt die Nischen, in denen sich das etwas andere Bensheim abspielt. Am Samstag lud der Diplom-Sozialarbeiter vom Diakonischen Werk ein, sich mit ihm auf Spurensuche zu begeben. Von der Fußgängerzone ging es bis in die Weststadt. Mitveranstalter war das Diakonische Werk Bergstraße.
„Die Wege können lang werden in Bensheim“, kündigte er in der Hauptstraße an. Wo andere in Schaufenster gucken, warf die Gruppe einen Blick in die Mülleimer. Wer kein Geld hat, sucht dort nach Pfandflaschen und Dosen, die sich in den Automaten in ein paar Cent verwandeln lassen. Nichts zu finden. Um zwölf Uhr ist es längst zu spät. Die Sammler touren früh.
Auch Tabak ist begehrt. Vor einem Café in der oberen Fußgängerzone nimmt Björn Metzgen-Meuer einen Aschenbecher und holt eine Kippe heraus. Vor dem Filter ist meistens noch etwas Resttabak. Er reißt das Papier auf und bröselt ein paar Krümel auf die Hand. „Das heißt Stippen.“ Irgendwann, nach 15 oder 20 Ex-Fluppen, hat man so viel Tabak, dass man daraus eine Zigarette drehen kann. Genuss ist anders. Doch wer in Armut lebt, lernt zu improvisieren.
Station am Bensheimer Bahnhof. Pfützen in der Tiefgarage. Nicht alles ist Regenwasser. Hier wird insbesondere im Winter gern Platte gemacht. Das bedeutet: einen provisorischen Platz für die Nacht herrichten. Meistens in Parks, auf Bänken oder unter Brücken. Aber auch in Hauseingängen oder Parkhäusern. Sie bieten Schutz vor Frost und Nässe. Auch Arbeiter aus Ost- und Südeuropa campieren hier oft in ihren Autos, weil sie sich keine Wohnung leisten können, erklärt der Insider.
Auf dem Boden an einer Wand hocken obdachlose Menschen. In schmutzigen Säcken die wenigen Habseligkeiten. Ein altes Fahrrad, Bierflaschen. Sie kennen den Ex-Streetworker und fragen nach einer Zigarette. Die gesundheitlichen Folgen ihres Lebens sind unübersehbar. Im letzten Jahr hat das Zentrum der Wohnungslosenhilfe der Diakonie 296 Menschen betreut. Insgesamt wurden 5400 Übernachtungen registriert. In diesem Jahr dürften die Zahlen ähnlich aussehen. Doch nicht alle kommen in das Haus am Weidenring.
Nur wenige Meter weiter östlich, auf der anderen Seite der Autobahn, liegt der Badesee. Zwischen den Bäumen und Büschen schlagen hier gerade im Sommer viele ihre Zelte auf, so Björn Metzgen-Meuer. Auch ein leerstehendes Haus am alten Güterbahnhof dient als Lager für die Nacht. Die wichtigsten Voraussetzungen: Sicht- und Wetterschutz.
Am Beauner Platz ist es an diesem Samstag fast menschenleer. Früher war das ein beliebter Treffpunkt der Szene. Nachdem der Rewe-Markt im Neumarkt-Center dichtgemacht hat, war es auch mit einer nahen Getränkeversorgung Essig. Also zog man weiter. Der Treff war tot. „Keine Stammsteher mehr“, so der Sozialarbeiter. So nennt man Menschen, die zwar eine kleine, meist schlichte und abgelegene Wohnung haben, sich aber an bestimmten Orten mit anderen treffen, um zu reden und etwas zu trinken. „So entstehen Angsträume“, erklärt der ehemalige Streetworker.
Doch der Mensch ist ein Herdentier. Er braucht Kommunikation und soziales Miteinander so nötig wie ein regelmäßiges Essen. Lebensmittel verteilt die Bensheimer Tafel. Aber auch die Franziskaner in der Klostergasse kochen heiße Suppe für Menschen ohne Geld. Kostenlos. Die Stephanus- und die Laurentiusgemeinde verteilen Essensgutscheine. Eine Bensheimer Ehrenamtsinitiative lädt seit 2016 zum kostenlosen Mittagstisch ins Bürgerhaus ein. Rund 60 Personen nutzen das soziale Angebot regelmäßig.
Obst und Gemüse, Käse und Wein. Am Marktplatz sieht man volle Einkaufskörbe mit den feinsten Leckereien. Ein zentraler Ort, an dem auch gefeiert wird. Auch hier lädt der Zivilisationsmüll zum Hinsehen ein. Vergessene Pfandgläser vom Winzerfest, Flaschen und anderes, was sich irgendwie zu Geld machen lässt. Und: eine öffentliche Toilette. Hier kann man sein Geschäft erledigen und der Körperhygiene nachgehen. Waschgelegenheiten sind rar. tr (Bergsträßer Anzeiger 21.8.2017)